Erkenntnisse zu den ersten modernen Menschen Mitteleuropas und ein Exkurs zu den Paläo-Anthroposphären

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Blick in die Ausgrabung vor der Ilsenhöhle in Ranis, Thüringen. Gegraben wurde in einem 8 m tiefen, abgesicherten Schacht. (Foto: © Marcel Weiss, Lizenz: CC-BY-ND 4.0)

Drei am Mittwoch, 31.1.2024 in den Fachzeitschriften Nature und Nature Ecology & Evolution erschienene Studien unter maßgeblicher Mitwirkung des Instituts für Ur- und Frühgeschichte, FAU Erlangen-Nürnberg leisten einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Besiedlungsgeschichte Mitteleuropas und des Paläoanthropozäns. So konnte mit einem breiten Spektrum modernster Methoden nachgewiesen werden, dass Homo sapiens bereits vor rund 45.000 Jahren in der Ilsenhöhle Ranis/ Thüringen anwesend gewesen ist. Dies stellt somit das älteste Auftauchen von Homo sapiens im nördlichen Mitteleuropa dar – zu einer Zeit, als in Südwesteuropa noch Neandertaler lebten. Die Menschen bewegten sich wohl in nur kleinen Gruppen durch eine kaltklimatische, tundra-artige Landschaft und besiedelten zu dieser Zeit wahrscheinlich schon einen Raum vom heutigen Polen und Tschechien bis nach England. Dies lässt sich unter Vorbehalt anhand typischer Steingeräte festmachen – genannt Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician (LRJ) – , welche in diesem Großgebiet auftauchen und für die die Ilsenhöhle Ranis eine Typuslokalität darstellt. Weitere Studien werden Licht auf die Verbreitungskarte dieser frühen modernen Menschen in Mitteleuropa werfen, deren Besiedlung nun in der Ilsenhöhle erstmals genau datiert werden konnte. Die damaligen Lagerplätze in der Höhle selbst sind durch kurze Aufenthalte gekennzeichnet, an denen sich die Menschen mit großen Karnivoren, wie etwa Höhlenhyänen und-bären, abwechselten.

Zwei Blattspitzentypen des LRJ aus der Ilsenhöhle in Ranis, 1) teilweise beidseitig bearbeitete Klingenspitze, 2) bifazielle Blattspitze. (Foto: © Josephine Schubert, Museum Burg Ranis, Lizenz: CC-BY-ND 4.0)

Ursprünglich ging die Forschung davon aus, dass Homo sapiens in einer recht großen Welle vor rund 40.000 Jahren vor heute nach Mitteleuropa einwanderten. Die neuen Untersuchungen zeigen nun ein anderes Bild auf: schon einige Tausend Jahre vorher zogen kleine Gruppen anatomisch moderner Menschen nach Europa, zu einem Zeitpunkt, an dem subarktische Bedingungen herrschten wie mittels Sauerstoffisotopenanalysen an Pferdezähnen in Ranis ermittelt werden konnte. Dadurch wird eine erstaunlich frühe Anpassung der Spezies an diese kalten Klimate belegt. Es scheint sich damit zu bestätigen, was die Forschung schon lange anhand der diversen Steingeräteinventare dieser Zeit vermutete, nämlich dass wir es mit einem Flickenteppich genetisch variabler Populationen im Europa dieser Zeit zu tun gehabt haben müssen. Die Steinwerkzeuge sind meist die einzigen materiellen Hinterlassenschaften einer Fundstelle und stehen mehrheitlich mit der Jagd in Verbindung. Dazu gehören in Ranis Klingenspitzen, die z.B. als Projektile von Speeren dienten, sowie große, beidseitig gearbeitete Messer. Das Jagdwild setzte sich vor allem aus den Herdentieren der tundren-artigen Steppenlandschaft zusammen, vorwiegend Rentiere und Pferde. Womöglich war es gerade der Reichtum der Herdentiere in der Mammutsteppe, der die Menschen, vielleicht in Form saisonaler Hunting Trips in den Norden lockte. Eine ganz erstaunliche Beziehung scheinen diese frühen europäischen Homo sapiens hingegen mit ihren vermeintlichen Konkurrenten gepflegt zu haben, den großen Raubtieren. Es ist bezeichnend, dass die Klingenspitzen dieser archäologischen Kulturgruppe fast ausschließlich in Hyänenhorsten zu finden sind. Offenbar haben sich die Menschen mit diesen Beutegreifern an den Plätzen abgewechselt, aber auch die Fleischvorräte, die Hyänen für Ihre Nachwuchs anlegten, könnten eine begehrte Beute der Menschen gewesen sein. Einige Forschende vertreten die Meinung, dass zwischen den damaligen Menschen und Hyänen eine besondere Interaktion geherrscht haben mag, die über pure Nahrungskonkurrenz hinausging.

Diese neue gewonnen Einblicke hinsichtlich der geographischen Verbreitung, der Mensch-Umwelt Interaktionen und Klimaanpassungsfähigkeit der ersten anatomisch modernen Menschen in Mitteleuropa stellen einen Meilenstein im Verständnis der damaligen Lebensrealitäten und somit des Paläoanthropozäns im Allgemeinen und der Paläoanthroposphäre des untersuchten Gebietes dar.

 

Verbreitungsgebiet und Paläoanthroposphäre des Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician (LRJ). In Ranis wurde nachgewiesen, dass die dortigen Klingen- und Blattspitzen vor 45.000 Jahren von Homo sapiens hergestellt wurden. Es ist möglich, dass dies auf das gesamte Verbreitungsgebiet des LRJs übertragen werden kann, muss aber von der Forschung noch untersucht werden. (Karte: © Marcel Weiss, Lizenz: CC-BY-ND 4.0)

Wissenswertes: der Begriff des Paläoanthropozäns

Sowohl medial als auch wissenschaftlich wird die Bezeichnung Anthropozän mittlerweile als Sinnbild für eine anthropogen überformte und übernutzte Erde genutzt. Die Einführung des Anthropozäns als offizielle geologische Epoche soll dem Umstand Rechnung tragen, dass das Handeln des Menschen bereits seit einiger Zeit entscheidende Auswirkungen auf ökologische, physikalische, chemische und atmosphärische Prozesse auf der Erde hat. Bisher gibt es keine formelle Festlegung auf den Beginn dieser Epoche. Am wahrscheinlichsten ist aktuell jedoch eine Einigung auf das Jahr 1950, da ab diesem Zeitpunkt auf globaler Ebene radioaktive Niederschläge identifizierbar sind. Diese können stellvertretend für die „große Beschleunigung“ der industriellen und landwirtschaftlichen Aktivität, sowie den raschen Anstieg der Bevölkerung, des Ressourcenverbrauchs und des Artensterbens stehen. Da jedoch bereits vor 1950 eine erhebliche Einflussnahme des Menschen auf die Erdsysteme existierte, wurde für diese Zeit der Begriff Paläoanthropozän vorgeschlagen, dessen Beginn sehr bewusst nur vage mit dem Auftauchen der Gattung Homo vor ca. 2,5 Millionen Jahren datiert wird. Während dieses Zeitraumes ist der Grad der anthropogenen Überformung sowohl räumlich als auch zeitlich sehr variabel, mit einem deutlichen globalen Anstieg ab der Jungsteinzeit (Neolithikum) im mittleren Holozän, ca. 7000 Jahre vor heute. Der weitaus größere Teil des Paläoanthropozäns befindet sich allerdings im Pleistozän (ca. 2,5 Millionen bis ca. 12000 Jahre vor heute), in welchem sehr niedrige Bevölkerungsdichten und jäger-sammlerische Lebensweisen einen nur geringen Fußabdruck im „Einklang mit der Natur“ nahelegen. Ein Hauptanliegen der Forschung zum Paläoanthropozän ist somit eine Überprüfung dieser These, indem versucht wird, die Größe und Intensität der vereinzelten menschlichen Wirkungskreise, also der Paläo-Anthroposphären zu rekonstruieren. Spezifische Forschungsdesiderate sind Migration, genetische Vielfalt, Ernährungsgewohnheiten und deren initiale Beeinflussung der pflanzlichen und tierischen Artengemeinschaften, sowie technologische Anpassungen an sich wandelnde Klima- und Umweltbedingungen.

 

Wissenswertes: Die Untersuchungen in Ranis

Die Ilsenhöhle unter der Burg Ranis in Thüringen hat sich in einem 258 Mio. Jahre alten Zechsteinriff gebildet und ist vor ca. 25.000 Jahren zu einem großen Teil verstürzt. Dabei hat das herabgestürzte Höhlendach die pleistozänen Schichten unter sich begraben. Nach Voruntersuchungen Ende der 1920er Jahre durch den damaligen Burgherren Dietrich v. Breitenbuch, wurde die Ilsenhöhle zwischen 1932-1938 von Werner M. Hülle großflächig ausgegraben. Die lange Stratigrafie der Höhle deckt einen Zeitraum vom hier im Fokus stehenden LRJ bis zum Mittelalter ab. Durch die Entdeckung des Inventars aus Klingen- und bifazialen Blattspitzen wurde Ranis zur Schlüsselfundstelle des Ranisian – ein Technokomplex, der an den Übergang vom Mittel- zum Jungpaläolithikum gehört.

Unter der Leitung von Jean-Jacques Hublin (MPI-EVA), Shannon McPherron (MPI-EVA) und Marcel Weiss (MPI-EVA und FAU) sowie von Tim Schüler vom Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Weimar führte ein internationales Forschungsteam von 2016 bis 2022 Ausgrabungsarbeiten direkt vor der Ilsenhöhle in Ranis durch. Es sollte die Stratigraphie, also die Abfolge der fundführenden Schichten, und vor allem die Chronologie, die zeitliche Einordnung der Fundschichten, ermittelt werden. Zudem wollte das Team Hinweise darauf finden, welche Menschen Träger des LRJ waren. Dazu mussten die Sedimente bis in 8 m Tiefe freigelegt und die Funde daraus geborgen werden. Die Herausforderung der Grabung bestand darin, eine komplette 8 m mächtige Sedimentsequenz zu untersuchen und dabei die Schichten des LRJ zu identifizieren. Es war auch gar nicht klar, ob nach den Ausgrabungen in den 1930er Jahren noch ausreichend fundführende Sedimente vorhanden waren. Glücklicherweise traf das Team auf einen 1,7 Meter mächtigen Felsblock, unter welchem damals nicht gegraben wurde. Nachdem dieser Versturzblock des ehemaligen Höhlendaches in Handarbeit zerkleinert und abtransportiert wurde, konnten die wichtigen Schichten des LRJ erreicht werden, die auch menschliche Knochenfragmente enthielten. Das war eine große Überraschung für das Team und entschädigte es für die mühevolle Arbeit an der Fundstelle.

Insgesamt konnten aus der neuen Grabung 4 menschliche Knochen identifiziert werden. Diese wurden noch durch 9 weitere aus dem Material der 1932-1938 Grabung, welches heute im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle/Saale lagert, ergänzt. Die Identifikation erfolgte durch Analysen von Proteinen, welche die Bestimmung auf Gattungsebene zulassen (Paläoproteomik), durch morphologische Identifikation sowie durch aDNA-Analysen.

Die Fundstelle Ilsenhöhle unter der Burg Ranis, Thüringen (Foto: © Tim Schüler TLDA, Lizenz: CC-BY-ND 4.0).

Wissenswertes: Die Bedeutung der neuen Ergebnisse für das Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician

Die menschlichen Knochen aus der Ilsenhöle wurden auf ein Alter von etwa 45.000 Jahren datiert und zusammen mit klingenförmigen, teilweise beidseitig („bifazial“) bearbeiteten Steingeräten gefunden. Diese sind Leitformen des Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician, eines archäologischen Technokomplexes, der am Übergang vom Mittelpaläolithikum zum Jungpaläolithikum steht und damit den Wechsel von Neandertalern zu anatomisch modernen Menschen darstellt. Die neu entdeckten Homo sapiens Fossilien zeigen nun eindeutig, dass sie auch die in Ranis vorkommenden fein gearbeiteten, bifaziellen Blattspitzen gefertigt haben, die vorher oftmals den Neandertalern zugeordnet wurden. Die neuen Entdeckungen belegen somit nicht nur die frühsten H. sapiens in Mittel- und Nordwesteuropa, sondern auch erstmals, dass Homo sapiens Träger des LRJ in Europa sind – zumindest in Ranis. Die teilweise beidseitig retuschierten Klingenspitzen aus Ranis können mit Funden aus Europa, von Mähren und dem südöstlichen Polen im Osten bis zu den Britischen Inseln im Westen, verknüpft werden. Damit wird auch gezeigt, dass Homo sapiens Nordwesteuropa einige Tausend Jahre vor dem Aussterben der Neandertaler in Südwesteuropa erreichten.

Marcel Weiss & Michael Hein

Links zu den Artikeln:

Mylopotamitaki et al. 2024: https://doi.org/10.1038/s41586-023-06923-7

Pederzani et al., 2024: https://doi.org/10.1038/s41559-023-02318-z

Smith et al.2024: https://doi.org/10.1038/s41559-023-02303-6