Die Sesselfelsgrotte in Neuessing
Landkreis Kelheim, Niederbayern, BRD
Christian Züchner: Allgemeines zur Sesselfelsgrotte.
Die Sesselfelsgrotte öffnet sich in der hohen Felswand über dem Ort Neuessing, Ldkr. Kelheim, im Herzen einer durch ihre zahlreichen paläolithischen und mesolithischen Fundstellen seit langem bekannten Region. Genannt seien die Klausenhöhlen, die Kastlhänghöhle, das Schulerloch und die Obernederhöhle.
Unter der Leitung von Prof. Lothar Zotz (1899-1967) und Prof. Gisela Freund hat das Erlanger Institut für Ur- und Frühgeschichte in den Jahren 1964-1977 und 1981 umfangreiche Ausgrabungen durchgeführt. Rund 100.000 Artefakte des Mittel- und Jungpaläolithikums, die Reste von drei Neandertalern und eine umfangreichen Fauna wurden in der nahezu 7 m mächtigen Schichtenfolge aus der letzten, der Würm-Eiszeit in mehr als 25 Kulturhorizonten geborgen.
Die für ihre Zeit sehr umfangreiche Grabungsdokumentation gewährt einen detaillierten Einblick in die geologischen, klimageschichtlichen, faunistischen, paläobotanischen und kulturgeschichtlichen Veränderungen in diesem langen Zeitraum von rund 100.000 Jahren. Die weitgehend ungestörte Sedimentation in der Sesselfelsgrotte erlaubt es, die typologische und technologische Entwicklung des Moustérien und des Micoquien zu verfolgen. Bedingt durch starke Erosionserscheinungen am Ende des Mittelpaläolithikums fehlen in der Sesselfelsgrotte das ältere und mittlere Jungpaläolithikum. Nur in der Schicht E2 könnte es geringe Reste des Gravettien gegeben haben, das im unmittelbar angrenzenden „Abri im Dorf“ Neuessing nachgewiesen wurde. Die Besiedlung der Sesselfelsgrotte beginnt erst wieder nach dem Hochglazial im Laufe des Magdalénien und dauert bis in das postglaziale Mesolithikum an.
Das Projekt wurde von Anfang an durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Das Paläolithikum und Mesolithikum des Unteren Altmühltals II“ werden in der „Quartär-Bibliothek“ durch G. Freund und L. Reisch herausgegeben. Vier reich bebilderte Monographien liegen bereits vor, vier weitere mit archäologischen und naturwissenschaftlichen Untersuchungen stehen vor dem Abschluss.
Das Grabungsgelände, das Fundmaterial und die Dokumentation befinden sich heute im Eigentum der Universität Erlangen-Nürnberg und werden vom Institut für Ur- und Frühgeschichte betreut.
Gisela Freund: Grabungsverlauf und Stratigraphie der Sesselfelsgrotte.
Der erste Band der auf 7-8 Monographien angelegten Publikationsreihe zu den Forschungsergebnissen in der Sesselfelsgrotte informiert zunächst über den Verlauf der insgesamt 15 Ausgrabungskampagnen und behandelt dann im Hauptteil den Schichtenaufbau und den Charakter der Sedimente, so wie diese während der Geländearbeiten beobachtet und grob analysiert worden sind. Auf der Grundlage dieser nur makroskopischen Betrachtungsweise der Sedimente wird zugleich eine vorläufige chronologische Wertung versucht.
Die umfangreiche Dokumentation der Grabungen wird detailliert ausgewertet, so dass der Band die Grundlage für alle weiteren archäologischen, insbesondere aber der naturwissenschaftlichen Arbeiten darstellt. Alle Ergebnisse bzw. Bestimmungen zu den überaus reichen und vielfältigen Faunenresten und zu den geborgenen Holzkohlen, die bereits während der Grabungen erzielt werden konnten, sind bereits hier in Band I mitgeteilt.
Im Hauptteil der Monographie werden in 22 Abschnitten die während der Grabungen auf Grund der unterschiedlichen Sedimente ausgegliederten Schichten A bis 3-West eingehend beschrieben. Dabei wird auf die variable Ausprägung einer jeden Schicht in den verschiedenen Bereichen der Grabungsfläche (Abri-Inneres, Nordwand, Hangflächen außerhalb der Traufkante etc.) besonders eingegangen. Das gilt auch für den anstehenden Felsboden, der weitgehend erreicht wurde. Als mächtige Felsrippe durchzieht er diagonal das Grabungsfeld und teilt es in zwei unterschiedliche Bereiche. Der Verlauf des Felsbodens trug wesentlich zum Verständnis des gesamten Sedimentgeschehens in der Sesselfelsgrotte bei. Verbruch von Decke und Wänden im Inneren des Abris und Hangschuttsedimente außerhalb der Traufkante bedeuteten nur den größeren Rahmen für eine hier wie dort sehr unterschiedliche Ausprägung der Sedimentation, die bis ans Ende des Mittelpaläolithikums wohl überwiegend ruhig verlief. Betont wird auf Beobachtungen Wert gelegt, für die es während der Grabungen keine befriedigenden Erklärungen gab. Genannt seien nur die zahlreichen isolierten Feinschuttlinsen von Schicht G an abwärts oder der fast rhythmische Wechsel von Fein- und Grobschuttlagen in den „Unteren Schichten“ oder die extreme Zerstückelung des Schutts, die gerade dort auftritt. Der Frage postsedimentärer Verwitterung wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dasselbe gilt für die Sedimentationsunterbrechungen, deren größte unterhalb der Lössschicht D eine Lücke von rund 20.000 Jahren umfassen mag.
Zahlreiche Photographien und die sehr detaillierten Zeichnungen von 4 Längs- und 4 Querprofilen, die der Publikation als separate Beilagen angefügt sind, verdeutlichen den komplexen Aufbau der Sedimente in der Grotte.
Die insgesamt 35 sedimentologischen Einheiten werden zu vier Abschnitten und damit in vier größeren Zeitphasen zusammengefasst.
Abschnitt I mit den Schichten 3-West bis M1 und einer Mächtigkeit von ca. 2,50 m ist identisch mit den „Unteren Schichten“ und ihrem vielgliedrigen Moustérien. Die Sedimentierung weist keine erkennbaren Lücken auf und verlief wohl überwiegend ruhig. Diese Sedimente stellen die wichtigsten im Gesamtprofil dar. Gleichalte Ablagerungen fehlen in den Höhlen und Abris Mitteleuropas oder sind, wie im Fall der Kulna, nur schwer vergleichbar. Die einzelnen Horizonte dieses Abschnitts I spiegeln jeweils ein kalt-trockenes oder kalt-feuchtes Klima wider. Sie enthalten die interstadialen Phasen innerhalb des Alt-Würm. Wärmeliebende Mollusken weisen insgesamt auf ein relativ günstiges Klima hin, dessen Verschlechterung sich in Fauna und Flora erst in der obersten, in Schicht M1 andeutet. Ältere Sedimente dürften wohl während des letzten Interglazials ausgeräumt worden sein.
Abschnitt II umfasst die Schichten L, K und den Übergangshorizont I, der diesem sedimentologischen Abschnitt zugerechnet wird, weil er gemeinsam mit K und L die sogenannten „Nagetierschichten“ darstellt. Die ca. 1 m mächtigen Sedimente enthalten keinerlei Kulturreste. Die Artenzusammensetzung der sehr reichen Kleinfauna in K und L weist auf ein Kältemaximum. Es sollte dem Isotopenstadium 4 entsprechen. Der Charakter der Sedimente indes entspricht nicht recht dieser Vorstellung, was besonders diskutiert wird.
Der insgesamt 1,50m mächtige Abschnitt III mit der Übergangsschicht I und den Schichten H-E spiegelt eine erneute Klimabesserung wider. Die sechsfache Gliederung des sogenannten „G-Komplexes“ mit den reichen Micoquien-Funden ist sedimentologisch außerordentlich deutlich. Die unterschiedlichen Sedimente dieses „G-Komplexes“ dürften mehrere kürzere Schwankungen anzeigen. Die Zuweisung zum Oerel-Glinde-Interstadial wird diskutiert. Mit Schicht E3 und dem zugehörigen Moustérien endet die wohl insgesamt ruhige Sedimentation der Abschnitte I-III. Es folgt eine Zeit tiefgreifender Erosionserscheinungen, größerer Ausräumungen und Verlagerungen.
Abschnitt IV, bis zu 2 m mächtig, beginnt mit der vollkommen sterilen Schicht D, einer Löss-Schutt-Schicht, in der sogar Faunenreste fehlen. Sie bezeugt die kalte Klimaphase des Hochglazials (Stadium 2). Die steilen Wände des Abris wirkten wie eine Sedimentfalle und konservierten die Lössanwehung. Erst im folgenden Spätglazial wird der Abri erneut Anziehungspunkt für die Jäger. Die Schuttschichten C2 und C1 mit Magdalénien-Industrien sollten dem Übergang zum Bölling-Alleröd-Komplex und der folgenden Dryas-Phase angehören. Die Sedimente zeigen einen deutlichen Hiatus zwischen C2 und C1 an. Für die hangenden B-Horizonte der jüngeren Tundrenzeit stellt der Feinschutt in B3, der sogenannte Bergkies, eine Besonderheit dar. Schicht B2 repräsentiert erneut eine Zeit, in der gewaltige Blöcke vom Felshang über der Grotte herabgestürzt sind. Sie begrenzen heute das Grabungsfeld zum Tal der Altmühl hin. Mit Schicht A endlich ist die spätmittelalterliche Nutzung des Abris verbunden, die in den spätglazialen Schichten der Sesselfelsgrotte manche Störung verursacht hatte.
LITERATUR:
Gisela Freund 1998: Sesselfelsgrotte I – Grabungsverlauf und Stratigraphie. (Forschungsprojekt „Das Paläolithikum und Mesolithikum des Unteren Altmühltals II“, Teil I), Quartär-Bibliothek Band 8. 311 Seiten mit 168 Textabbildungen und 7 Beilagen. Saarbrücken 1998. ISBN 3-930843-42-0
Andreas Dirian: Das späte Jungpaläolithikum und das Spätpaläolithikum der oberen Schichten der Sesselfelsgrotte.
Die Ausgrabungen in der Sesselfelsgrotte erbrachten im oberen Teil der Sedimentverfüllung eine spätglaziale Schichtenfolge. Für die Schichten C2 und C1 kommt eine Entstehung während der Ältesten Tundrenzeit oder am Übergang zum Bölling-Alleröd-Komplex in Frage, die Horizonte B3 und B2 bildeten sich während der Jüngeren Tundrenzeit.
In jedem dieser geologischen Horizonte wurde ein Fundniederschlag angetroffen, insgesamt etwa 5500 Silexartefakte. Unter Anwendung verschiedener Methoden ließen sich vier auf die einzelnen geologischen Horizonte verteilte Fundeinheiten rekonstruieren, die als archäologische Horizonte C2, C1, B3 und B2 bezeichnet wurden. Störungen und Vermischungen waren erkennbar, traten aber nur in geringem Maße auf und beschränkten sich auf bestimmte Fundplatzareale.
Der unterste jungpaläolithische Horizont C2 enthielt das Inventar einer älteren Phase des mitteleuropäischen Magdalénien, der Horizont C1 ein spätes Magdalénien mit Rückenspitzen.
Im archäologischen Horizont C2 ist ein gut organisierter Lagerplatz belegt, der von einer größeren Menschengruppe wohl über einen Zeitraum von vielleicht 2-4 Wochen während der Frühjahrsjagd auf Rentier- und Pferdeherden genutzt wurde. Die zurückgelassenen Artefakte stehen in Zusammenhang mit der Verarbeitung der Jagdbeute sowie der Anfertigung von Jagdwaffen. Überliefert sind drei Feuerstellen, von denen mindestens eine aufwendig mit Steinen umbaut und befestigt war.
Der archäologische Horizont C1 kann als Niederschlag eines nur kurzzeitig begangenen Zwecklagers angesehen werden, in dem wenige Menschen, möglicherweise nur Männer, zahlreiche Hornsteinknollen verarbeiteten, um daraus einen Vorrat an Grundformen und Geräten zu fertigen. Daneben wurden die Jagdgerätschaften ausgebessert und neue hergestellt. Die Besiedlung fand vermutlich im Herbst statt.
Die endglazialen Horizonte B3 und B2 sind nach Funden wie Rückenspitzen und kurzen Kratzern dem spätpaläolithischen Federmesserkreis anzuschließen. Die Begehungen lassen sich als verschieden lang genutzte Basislager interpretieren, die den Ausgangspunkt für die Jagdunternehmungen bildeten. Eine mesolithische Begehung des Abris deutet sich nur durch einige wenige Mikrolithen an.
Aus dem Vergleich der Funde und Befunde ergeben sich einige Unterschiede zwischen den magdalénienzeitlichen Horizonten C2 und C1 und den spätpaläolithischen Horizonten B3 und B2. Die wichtigsten Änderungen betreffen die Größe und den Aufbau der Siedlungsstellen, die Zusammensetzung des Artefaktinventars und des Geräteschatzes sowie die Form der Geräte. Unter anderem fällt auf, dass sich der Siedlungsschwerpunkt allmählich vom Inneren des Abris auf den Vorplatz verlagerte. Die Gründe werden in den veränderten Umweltbedingungen des Spätglazials vermutet, die in hohem Maße die Lebensweise der Jäger und Sammler beeinflusst haben.
Die Nutzung überdachter Felsräume war im Magdalénien ein fester Bestandteil des Siedlungswesens. Vermutlich wurde dies durch den Charakter der damals offenen, waldfreien Landschaft gefördert. Sie boten einen natürlich vorgegebenen und geschützten Wohnraum. Die spätpaläolithischen Jäger und Sammler, deren Lebensweise durch hohe Mobilität, häufigen Lagerplatzwechsel und Bewegungen über kurze Entfernungen gekennzeichnet war, mieden dagegen Höhlen und Abris weitestgehend.
Die Sesselfelsgrotte ist eine der wenigen Fundstellen in Süddeutschland und derzeit die einzige in Bayern, die eine Abfolge mehrerer spätjungpaläolithischer und spätpaläolithischer Begehungen aufweist. Trotz ihrer siedlungs- und jagdstrategisch günstigen Lage wurde sie in einem Zeitraum von drei- bis viertausend Jahren nur viermal begangen. Die Gründe mögen Erhaltungsbedingungen, ökologische Faktoren und menschliche Verhaltensweisen sein.
LITERATUR:
Andreas Dirian 2004: Sesselfelsgrotte V – Das späte Jungpaläolithikum und das Spätpaläolithikum der oberen Schichten der Sesselfelsgrotte. (Forschungsprojekt „Das Paläolithikum und Mesolithikum des Unteren Altmühltals II“ Teil V). Quartär-Bibliothek Band 9. 291 Seiten, 108 Textabbildungen, 51 Tabellen, 38 Tafeln. Saarbrücken 2003. ISBN 3-930843-86-2. ISSN 0480-9106.
Utz Böhner: Die mittelpaläolithischen Funde der Schicht E3 der Sesselfelsgrotte
Unter einer mächtigen Löss- und Feinschuttschicht D folgt der jüngste mittelpaläolithische Horizont E3 der Sesselfelsgrotte, der in der gesamten Grabungsfläche gut ausgebildet ist. Eine sterile Schicht F trennt E3 von dem fundreichen G-Komplex des Micoquien.
Von dem mittelpaläolithischen Inventar E3 lässt sich ein kleines jungpaläolithisches Inventar absondern, das als E2 bezeichnet wird. Über Rohmaterialvergleiche konnten Beziehungen zu den gravettienzeitlichen Funden im angrenzenden „Abri im Dorf“ aufgezeigt werden. Zwischen den Schichten E3 und E2 ist somit in der Stratigraphie ein Hiatus von mindestens 10.000 Jahren nachweisbar.
Das Inventar E3 umfasst etwa 2200 Artefakte. Im Abri-Inneren der qm A 7 und A 8 zeichnet sich eine deutliche Fundkonzentration ab. Die Auswertung ergab, dass das Inventar E3 ungestörte Fundbedingungen aufweist und als „relativ geschlossen“ angesehen werden kann. Das Alter ergibt sich indirekt über die stratigraphische Abfolge der Sesselfelsgrotte und eine Sequenz von 14C- und TL-Daten aus den G-Schichten. Beide Verfahren weisen auf eine sehr junge Stellung innerhalb des Mittelpaläolithikums (OIS 3) hin. Trotz auffallend junger 14C-Daten für die G- und E-Schichten ist eine Datierung jünger als 40.000 für Schicht E3 nicht mit Sicherheit zu belegen.
Hinweise auf Verlagerungserscheinungen gibt es nicht. Mit Hilfe der Transformationsanalyse konnte gezeigt werden, dass die Silices der Sesselfelsgrotte (E3) und im Abri I am Schulerloch, die zum Vergleich herangezogen wurden, unabhängig von der Inventargröße annähernd gleichen Transformationsprozessen unterlagen. Vollständige Transformationen sind selten. Von Rohstücken oder vorpräparierten Kernen wurden meist nur kurze Abschlagsequenzen abgebaut. Die durchschnittliche Werkstückgröße liegt im Inventar Sesselfelsgrotte E3 bei 6-7 Stücken. Auffallend hoch ist der Anteil der Werkzeuge an den Einzelstücken. Der vermutete Anteil an importierten Werkzeugen liegt über 50%. Die Werkzeuge sind überwiegend kaum gebraucht.
Der Modifikationsabfall aus Werkzeugkanten belegt eine Überarbeitung von Werkzeugen vor Ort. Importiert wurden vor allem einfache Schaber (im Abri Schulerloch auch Bifazial-Werkzeuge). Einfache Schaber, Mehrfach- und Breitschaber sowie gekerbte Stücke wurden vorwiegend vor Ort hergestellt. Auch die Werkstücke erweisen sich als hoch dynamisch. Erhalten ist jeweils nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Transformationsprozess. Unterstützt wird dieses Ergebnis durch die hohe Rohmaterialdiversität.
Zur Herstellung der Grundformen dominiert in E3 ein Levalloiskonzept, bei dem unipolar oder umlaufend eine leicht konvexe Abbaufläche ausgebeutet wird. Auf die Form der Zielabschläge wird wenig Sorgfalt verwendet. Die Kernflankenpräparation beschränkt sich auf das Notwendige. Bei günstigen natürlichen Abbauwinkeln wird meist auf eine Präparation verzichtet.
Neben dem eher pragmatischen Levalloiskonzept ist häufig auch ein aufwendiges bipolares Levalloisklingenkonzept nachzuweisen. Levalloisspitzen wurden bis auf ein Exemplar nachweislich nicht hergestellt. Flussgerölle sind oft zitronenschnitzförmig abgebaut, um einen natürlichen Rücken zu gewinnen. Das Quina-Konzept konnte nicht nachgewiesen werden. Auffällig ist ein hoher Anteil an Kernen aus Abschlägen.
Das Inventar Sesselfelsgrotte E3 entspricht formenkundlich einem typischen Moustérien, das weitgehend frei von bifazialen Werkzeugen ist. Neben Bifazial-Schabern tritt lediglich ein kleiner Fäustel in Schicht F auf, dessen Zugehörigkeit zum Inventar E3 nicht gesichert werden konnte, aber wahrscheinlich ist.
Die Frage nach der Begehungsdauer bzw. der Begehungsintensität kann anhand des Inventars der Schicht E3 nur schwer abgeschätzt werden. Es ist unwahrscheinlich, dass große Inventare immer auf eine längere, kleine Inventare auf eine kurze Begehungsdauer schließen lassen. Die Größe eines Inventars könnte lediglich das Ergebnis mehrerer Einzelbegehungen, der Begehungs-Intensität und der Sedimentationsrate sein. Die Vielzahl der kleinen Werkstücke scheint auf viele kürzere Einzelereignisse hinzuweisen.
Im Vergleich zu den Inventaren aus den G-Schichten und dem Abri am Schulerloch ist eine weitgehende Übereinstimmung im Rohmaterialspektrum, den Grundformkonzepten sowie den Transformationsstadien festzustellen. Die Inventare scheinen sich vornehmlich in der Rohmaterialdiversität, der Größe und im Werkzeugspektum (Anteil an komplexeren Schabern, gekerbte/gezähnten Stücken sowie der sogenannten formüberarbeiteten Werkzeuge incl. Bifazial-Werkzeuge) zu unterscheiden. Dies weist auf aktivitätsspezifische Ursachen hin. Trotz des weitgehenden Fehlens von Bifazial-Werkzeugen fügt sich das Inventar E3 nach der Systematik von J. Richter in die Folge der Micoquen-Inventare der G-Schichten ein. Mit Inventar A07 konnte in den G-Schichten ein vergleichbares, Bifazial-Werkzeuge freies Inventar nachgewiesen werden.
Eine Unterscheidung von Micoquien und Moustérien zumindest im OIS 3 sollte überdacht werden, da außer dem Vorkommen an Bifazial-Werkzeugen die Gemeinsamkeiten überwiegen.
LITERATUR:
Utz Böhner: Sesselfelsgrotte IV – Die Schicht E3 der Sesselfelsgrotte und die Funde aus dem Abri I am Schulerloch. Späte Moustérien-Inventare und ihre Stellung zum Micoquien. Sesselfelsgrotte IV. Dissertation Erlangen 2000.
KONTAKT: Dr. Utz Böhner utz.boehner@nld.niedersachsen.de
Jürgen Richter: Der G-Schichten-Komplex der Sesselfelsgrotte.
Die paläolithische Fundstelle der Sesselfelsgrotte im Unteren Altmühltal ist vor allem wegen ihrer einzigartigen Abfolge von insgesamt 22 Belegungen für die Chronologie und Kulturgeschichte des Mittelpaläolithikums von besonderer Bedeutung. Der jüngere G-Schichtenkomplex des Micoquien wird von dem älteren der „Unteren Schichten“ des Moustérien durch eine Folge von archäologisch fundleeren Schichten (Schicht L, K, I) mit zahlreichen Nagetierresten getrennt, die dem ersten Kältemaximum der Würmeiszeit (Tiefsee-Stadium 4) zugewiesen werden kann.
Der G-Schichten-Komplex der Sesselfelsgrotte enthält die umfangreichste Abfolge spätmittelpaläolithischer bifazialer Inventare (Micoquien) in Mitteleuropa. Sie ist deshalb vorzüglich dazu geeignet, Gliederung und Zeitstellung des Micoquien und dessen Verhältnis zum Moustérien einer Revision zu unterziehen. Es zeigt sich, dass das Micoquien in einen älteren Abschnitt ohne Levalloiskonzepte und einen jüngeren mit Levalloiskonzepten gegliedert werden kann und ganz an das Ende des europäischen Mittelpaläolithikums gehört.
Der sogenannte „G-Komplex“ (Schichten H, G5, G4a, G4, G3, G2, G1) umfasst insgesamt 13 Inventare von Moustérien- und Micoquien-Charakter. Sie wurden zum Teil in regelrechten, durch Feuerstellen gekennzeichneten Kulturschichten (insbesondere die Schichten G4 und G2, mit mehreren Feuerstellen) angetroffen.
Neben rund 85.000 Steinartefakten fanden sich im G-Komplex auch umfangreiche Reste der Jagdbeute, darunter vor allem solche von Mammut, Ren und Pferd. Die Umwelt des G-Komplexes war eine Steppenlandschaft mit zunehmend arktischen Elementen gegen Ende der Schichtserie. Der G-Komplex gehört vermutlich einem späten Abschnitt des Oerel-Glinde-lnterstadial-Komplexes an. Nach ersten 14C-Daten fällt die Besiedlung in die Zeit zwischen 50.000 und 40.000 14C-Jahren vor heute.
Die Betrachtung der stratigraphischen Verhältnisse lässt einen zentralen Bereich der Sesselfelsgrotte erkennen, in dem alle Schichteinheiten des G-Komplexes repräsentiert sind. In den Randbereichen fallen einzelne Schichtglieder aus. Erosionsrinnen und eine Versturzpackung im nördlichen Randbereich begrenzen die Fundzonen.
Da die artefaktführenden Schichten unmittelbar aufeinander lagen und die Randbereiche nicht in allen Teilen eindeutig ihren stratigraphischen Äquivalenten im zentralen Bereich zuzuordnen waren, stellte sich für den Bearbeiter die Aufgabe, die archäologischen Einheiten durch zusätzliche Argumente genauer aufzufinden und zu definieren. Dies geschah insbesondere durch die eigens entwickelte Methode der Analyse von Rohmaterialnachbarschaften. Diese geht von der Annahme aus, dass jedes Belegungsereignis an einer besonderen Kombination von Rohmaterialgruppen (der Steinartefakte) wiederzuerkennen ist, die ihrerseits die Mobilitätsmuster und die Ressourcenkenntnis einer bestimmten Menschengruppe widerspiegelt. Die ermittelten Rohmaterialkombinationen wurden auf ihre räumliche Kontingenz überprüft, mit den vorhandenen Befunden (Feuerstellen) abgeglichen und zu 13 stratifizierten archäologischen Einheiten zusammengefasst.
Die Rohmaterialnachbarschaften bilden die Grundlage von 13 stratifizierten und 3 unstratifizierten Steinartefaktinventaren. Entgegen der konventionellen formenkundlichen Ansprache der Inventare erweisen sich das „Micoquien“ und „Moustérien“ als vielfältig miteinander verknüpfte Phänomene, nicht als scharf begrenzte kulturelle Einheiten in Zeit und Raum.
Aus einer detaillierten Betrachtung der wechselnden Rohmaterialversorgung lassen sich vier Belegungszyklen herausarbeiten. Sie beginnen mit kleinen Inventaren, die durch ein buntes Rohmaterialspektrum gekennzeichnet sind („Initialinventare“). Sie enden mit größeren Inventaren („Konsekutivinventare“), deren Rohmaterialzusammensetzung einheitlicher und somit auf wenige Ressourcen konzentriert ist. Initialinventare dürften am Beginn der Erkundung und Nutzung einer Region (Altmühltal) entstanden sein, Konsekutivinventare nach einem längeren Aufenthalt in der Region.
Eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen zur Typologie, Technologie und Chronologie der Funde und Befunde der G-Schichten der Sesselfelsgrotte erlaubt den Schluss, dass sich die konventionellen kulturellen Einheiten des westmitteleuropäischen Moustérien („Moustérien à denticulés“ oder „Inventartyp Kartstein“, „Inventartyp Balve IV“) und Micoquien („Inventartyp Bockstein“, „Inventartyp Klausennische“, „Inventartyp Schambach“, „Inventartyp Königsaue“, vermutlich auch „Inventartyp Rörshain“ und „Altmühlgruppe“) als vielgestaltige Moment-Produkte einer in Wirklichkeit sehr viel einfacher strukturierten historischen Realität erweisen. Diese hinterließ ein älteres und ein jüngeres Micoquien, das insgesamt einen Zeitraum von „nur“ etwa 15.000 Jahren einnimmt und zu den letzten kulturellen Hinterlassenschaften des Neandertalers gehört.
LITERATUR:
Jürgen Richter 1997: Sesselfelsgrotte III – Der G-Schichten-Komplex der Sesselfelsgrotte. Zum Verständnis des Micoquien. (Forschungsprojekt „Das Paläolithikum und Mesolithikum des Unteren Altmühltals II“ Teil III), Quartär-Bibliothek Band 7. 473 Seiten, 190 Textabbildungen, 79 Tabellen, 102 Tafeln. Saarbrücken 1997. ISBN 3-930843-21-8.
Wolfgang Weissmüller: Die Silexartefakte der Unteren Schichten der Sesselfelsgrotte.
Die basalen 3 m der Schichtenfolge in der Sesselfelsgrotte werden als die „Unteren Schichten“ bezeichnet. Sie gliedern sich von oben nach unten in die Schichten M1 bis 3-West. Die Beobachtung des Oberhanges der Fundstelle und des Gefälles der Schichtoberflächen im Bereich der Grabung führen zu dem Schluss, dass die Herkunft der Sedimente der Unteren Schichten überwiegend im Hangschutt der Albüberdeckung zu suchen ist.
Die Entstehung der Unteren Schichten wird mit dem Pollenprofil von La Grande Pile und der entsprechenden Tiefsee-Klimakurve korreliert. Als Argumente dienen: die Anwesenheit von wärmeliebenden Wassermollusken in den Schichten 3-West bis M3, das erste Auftauchen von Kälteanzeigern ab der Schicht M3 (Pinus cembra, Mammut), das Auftauchen von Graulemming in M1 und das Erscheinen des Halsbandlemmings in der hangenden Schicht K. Entsprechend wird eine Einordnung der Unteren Schichten überwiegend in die beiden ersten Weichsel-Interstadiale (Amersfoort/Brörup und Odderade) und das Ende der Unteren Schichten mit dem Abfall des Klimas in das erste Kältemaximum (Stadium 4) vorgeschlagen. Diese Einordnung kann auch das Abbrechen der kontinuierlichen Begehung durch den Menschen mit der Schicht L erklären. Ob die Unteren Schichten bereits im Eem-Interglazial einsetzten, muss derzeit noch offen bleiben.
Mehrere besondere Eigenschaften des Silexmaterials der Unteren Schichten bieten die Möglichkeit, die Vorlage mit einer übergeordneten Fragestellung zu verbinden: Inwieweit ist es methodisch erlaubt, die Form mittelpaläolithischer Silexartefakte als historische Quelle zu benutzen?
Die überschaubare Anzahl von 9391 Silexartefakten der Unteren Schichten, verteilt auf eine Schichtmächtigkeit von ca. 3 Metern, und die außerordentliche Rohmaterialvielfalt erlauben es, etwa ein Drittel der Artefakte (3360) zu den ursprünglichen Gesteinsstücken zurückzusortieren (Werkstück) bzw. diejenigen auszusondern, für die eine Formgebung im Areal der Grabungsfläche nicht nachweisbar ist (Einzelstück). Mit diesem Verfahren, der sogenannten Werksrückbildung, ist es möglich, den Zustand der Gesteinsstücke bei der Ankunft an der Fundstelle (Importzustand) zu rekonstruieren, und die Stadien der Formveränderung im Bereich der Fundstelle (Transformationsstadium) zu erschließen.
Aus dem Vergleich mit den Rohmaterialvorkommen in der Umgebung der Sesselfelsgrotte ergibt sich, dass die Rohmaterialversorgung während der Bildung der Unteren Schichten eher spontan und zweckgebunden erfolgte. Es gibt keinen Hinweis dafür, dass bestimmte Lagerstätten, z.B. die unweit gelegene Plattenhornsteinlagerstätte bei Baiersdorf, regelmäßig ausgebeutet wurden. Nicht zuletzt daraus resultiert die außerordentliche Buntheit der Materialien in den Unteren Schichten. Der Eintrag von Materialien aus einer größeren Entfernung konnte nicht nachgewiesen werden.
Aus der Analyse des gesamten Silexmaterials und der Merkmale der Rohmaterialklassen und Grundformen (Rohstücke, Kerne, Trümmer, Absplisse und Abschläge) und ihrer Verteilung in den geologischen Schichten (M1 bis 3-West) lassen sich 28 mit Hilfe von Werkstücken gebildete Auswertungseinheiten (B001 – B027) herausarbeiten und zu acht Inventaren (A01 – A08) zusammenfassen.
Eine typologische und technologische Analyse der Artefakte in Anlehnung an F. Bordes und G. Bosinski führt zu folgendem Ergebnis: Das unterste Inventar A08 kann wegen der geringen Anzahl von Werkzeugen nur allgemein als Moustérien angesprochen werden, das Inventar A07 als Moustérien mit Sticheln, das Inventar A06 als Moustérien mit Charentien-Elementen, das Inventar A05 als Charentien mit Werkzeugen von geometrischem Zuschnitt, das Inventar A04 als Charentien mit konvexen Arbeitskanten, das Inventar A03 als Typisches Moustérien, das Inventar A02 als Moustérien mit häufigen Schabern und das Inventar A01 als Typisches Moustérien mit gezähnten Artefakten. Das Charentien-Inventar A05 mit dem größten Schaberanteil wurde überwiegend aus lokalen Materialien gearbeitet, während das gezähnte Moustérien des Inventars AO1 mit dem Eintrag von bereits vorgefertigten Grundformen bzw. dem Grundformabbau anhand von außerhalb der Fundstelle präparierten Kernen einherging.
Aus der Suche nach vergleichbaren Fundstellen und deren geographischen Verbreitung ergibt sich, das der untere durch Mikrolithen geprägte Komplex der Abfolge am Westrand eines Technokomplexes mit einem Zentrum im östlichen Mitteleuropa lag, während die beiden jüngeren Komplexe der Unteren Schichten zunehmend nach Westen weisen.
LITERATUR:
Wolfgang Weissmüller 1995: Sesselfelsgrotte II – Die Silexartefakte der Unteren Schichten der Sesselfelsgrotte. Ein Beitrag zum Problem des Moustérien. (Forschungsprojekt „Das Paläolithikum und Mesolithikum des Unteren Altmühltals II“, Teil II), Quartär-Bibliothek Band 6. 559 Seiten, 44 Textabbildungen, 17 Tabellen, 52 Tafeln, 145 Abbildungen und Computergraphiken. Saarbrücken 1995. ISBN 3-930843-01-3
Thomas Rathgeber: Die Neandertaler aus der Sesselfelsgrotte im unteren Altmühltal.
Menschenreste sind bei Ausgrabungen immer ein Glücksfall und besonders wertvoll. Dies gilt auch im Fall der altsteinzeitlichen Fundstelle Sesselfelsgrotte. Die hier ausgegrabenen Knochen und Zähne können wegen ihrer geringen Größe und fragmentarischen Erhaltung allerdings nur wenig von der körperlichen Beschaffenheit der Menschen vermitteln, von denen sie stammen. Insgesamt wurden 14 menschliche Fossilien gefunden, nämlich 12 fetale Knochen und zwei Milchbackenzähne, die zu drei Individuen gehören und auch in drei unterschiedlichen Schichten zutage kamen. Diese Schichten aus der mittleren Altsteinzeit enthielten in großer Zahl charakteristische Steinartefakte sowie bestimm- und auswertbare Tierknochen. Aus dem archäologischen Zusammenhang sowie aus den Menschenresten selbst ergibt sich ihre Zuordnung zum Neandertaler (Homo neanderthalensis).
Die beiden Backenzähne aus den Schichten G2 und M2 haben Kinder einst beim Zahnwechsel verloren, und zwar – auf heutige Kinder bezogen – im Alter von ungefähr 12 Jahren. Aus Schicht G5 stammen die Knochen von einem 8-monatigen Fetus, vermutlich von einem Kind, das tot geboren wurde oder kurz nach seiner zu frühen Geburt starb. Sie belegen zum einen als „Lebenszeugnis“, dass eine Frau im gebärfähigen Alter an der Fundstelle anwesend war, und zeigen zum anderen, dass die Neandertaler den Leichnam in einem Grab bestatteten, denn bei einer Lagerung an der Oberfläche wären auch die wenigen Hartteile eines so zarten Wesens schnell und gründlich vergangen. Aus dem großen Abri von La Ferrassie in der Dordogne (Frankreich) kennt man zum Beispiel Strukturen in den Höhlenablagerungen, die man als Grabgruben von Neandertaler-Kindern und sogar von -Feten deuten kann.
Ähnliches ließ sich bei der Ausgrabung des fetalen Skelettes in der Sesselfelsgrotte nicht beobachten. Doch auch ohne einen solchen direkten Nachweis einer Kulthandlung ermöglichen die Funde neue Einblicke in die Nutzung der Höhle durch die Neandertaler, die Menschen der mittleren Altsteinzeit, und unterstreichen so die Bedeutung des Fundplatzes Sesselfelsgrotte für die Kenntnis des Jungpleistozäns in Mitteleuropa.
LITERATUR:
Rathgeber, Th. 2006: Fossile Menschenreste aus der Sesselfelsgrotte im unteren Altmühltal (Bayern, Bundesrepublik Deutschland). Quartär, Jahruch für Erforschung des Eiszeitalters und der Steinzeit, Band 53/54, S. 33-59, 8 Abb., 6 Tab.; Saarwellingen.