Plattenhornstein der südöstlichen Frankenalb (4)
Obernederhöhle
Gefunden 1962 an der Schichtgrenze 3/4 der Grabung Zotz – Freund
Blattspitze
Typologische Zugehörigkeit: Spätes mitteleuropäisches Mittelpaläolithikum
Länge 6.5 cm; Breite 2.4 cm; Dicke 0.55 cm.
Jegliche Präsentation der Plattenhornsteine der südöstlichen Frankenalb bliebe unvollständig ohne die Besprechung der Blattspitze mit der Inventarnummer OH-P 700 aus der Obernederhöhle. Hergestellt wurde sie aus einer dünnen, etwas unregelmäßigen Hornsteinplatte, mit – soweit die wenigen Rindenreste der rechts gezeigten Ansicht eine Beurteilung zulassen – unterschiedlich dick ausgebildeten Cortexflächen. Die Farbe – ein helles Bläulichgrau (´taubengrau´), das bald in ein dunkles Grau übergeht – ist für die Plattenhornsteine aus dem Innreren der südöstlichen Frankenalb eher ungewöhnlich, ebenso die kryptokristalline Struktur und die durchscheinenden Kanten. Damit erinnert das Material an die Platten aus der Lagerstätte von Abensberg-Arnhofen, jedoch fehlt die dafür charakteristische Bänderung. Als Herkunftsort müssen wir eine uns nicht bekannte Plattenhornstein-Lagerstätte des Oberen Malms annehmen.
Die Herausbarbeitung der gestreckten, nahezu perfekt symmetrischen Form erfolgte wieder über ein zweistufiges Vorgehen: Zunächst wurde das Rohstück – auf dessen ursprünglichen Umriß wir keine Hinweise haben – mit flachen, weit in die Rindenpartie ausgreifenden Retuschen vorgeformt. Reste dieser Retuschen sind vor allem auf der links gezeigten Fläche zu sehen, und zwar im mittleren und distalen Abschnitt der linken Kante. Auf der rechten Ansicht sind sie im proximalen Abschnitt der linken Kante zu finden. Die endgültige Bestimmung des Umrisses geschah dann über steiler gesetzte Retuschen, die an den vollständig erhaltenen, unmittelbar an die Kanten des Stückes anschließenden Retusche-Negativen zu erkennen sind. Da diese zweite Retuschegeneration überwiegend auf der rechts gezeigten Fläche zu liegen kam, hat das Stück einen leicht asymmetrischen Querschnitt: Die Fläche, die überwiegend mit der ersten Retuschegeneration geformt wurde (linke Ansicht) ist weniger, diejenige der zweiten Generation stärker aufgewölbt, so daß sich insgesamt ein plankonvexer Querschnitt ergibt.
Blattspitzen, d.h. im Längsschnitt schlanke und annähernd gerade verlaufende, mehr oder weniger vollständig bifazial gearbeitete Werkzeuge, in der Aufsicht langschmal und axialsymmetrisch mit ein oder zwei Spitzen, stellen die Archäologen vor besondere Probleme, da sie nahezu über die ganze Welt verbreitet sind und dies in unterschiedlichstem Kulturmilieu. Am bekanntesten sind die Blattspitzen des späten Mittelpäläolithikums des östlichen Mitteleuropa (Szeletien) und die des mittleren Jungpaläolithikums in Westeuropa (Solutréen). In der Kupferzeit erscheinen sie wieder in sehr ähnlicher Ausbildung als Dolchklingen und ohne deutliche morphologische Abweichungen wurden sie noch zur Zeit unseres Mittelalters in Mesoamerika für rituelle Zwecke angefertigt.
Dieses langdauernde und überregionale Auftreten (Ubiquität) der Blattformen (wie auch der Faustkeile, die ihre technologische Vorfahren darstellen) kann zunächst mit dem einfachen Konzept erklärt werden, das für die Herstellung ausreicht: Die Form der Abbauprodukte (Abschläge) spielt keine Rolle und die Aufmerksamkeit kann ungeteilt der Form des ´Kernes´ gewidmet werden (´Kerntechnik´). Einen zusätzlichen Grund finden wir in den physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die beim Spalten von Silex wirksam sind, der Erzeugung von Blattformen (und Faustkeilen) aber besonders entgegenkommen. Der Spaltvorgang ist von einer Kante an dem Gesteinsstück abhängig und er wird erfolgreich ausfallen, wenn diese Kante (Abbaukante) einen spitzen Winkel (Abbauwinkel) aufweist. Faustkeile und Blattformen entstehen, wenn die Aufmerksamkeit ungeteilt der Erzeugung und Aufrechterhaltung der Abbaukante gewidmet wird; sie wird schließlich als scharfe Kante das Gesteinsstück umrunden, und es aufgrund des spitzen Winkels in eine von zwei Flächen gekennzeichnete Form (Zweiseiter) umgewandelt haben.
Innerhalb der Geschichte der Blattspitzen nimmt das gezeigte Stück eine prominente Stellung ein, da es zu den ältesten klar ausgeprägten Exemplaren gehört. Es wurde in der gleichen stratigraphischen Position wie das im vorangegangenen vorgeführte Prondnik-Keilmesser gefunden. Da die komplizierte Stratigraphie der Obernederhöhle jedoch keine letzte Sicherheit hinsichtlich der Zusammengehörigkeit der beiden Stücke gewährleisten kann – wobei die Ähnlichkeiten in der zweistufigen Anfertigung wie in der geometrischen Auffassung des Umrisses keinesfalls gegen eine Gleichzeitigkeit sprechen -, sind die unteren Ablagerungen der Weinberghöhlen von Mauern von Bedeutung: Hier (Schichten G und F nach Zotz-Freund 1947 – 1949) wurden ähnlich gestreckte Blattspitzen zusammen mit einem dem Prondnikmesser der Obernederhöhle vergleichbaren Zweiseiter in einer geostratigraphischen Situation aufgefunden, für die ein Alter von 45.000 Jahren wahrscheinlich gemacht wurde.
Literatur:
Freund, G.: Das Paläolithikum der Obernederhöhle (Landkreis Kelheim/Donau). Quartär-Bibliothek 5. Bonn 1987. (Vgl. 73, Abb. 29, 6)
Konigswald, v.W. et al.: Die Archäologie und Paläontologie in den Weinberghöhlen bei Mauern (Bayern). Grabungen 1937 – 1967. Archaeologica Venatoria 3. Tübingen 1974. (Vgl. Taf. 9).
Weißmüller, W.: Die Silexartefakte der Unteren Schichten der Sesselfelsgrotte. Ein Beitrag zum Problem des Moustérien. Quartär-Bibliothek 5. Bonn, 1995.
Zotz, L.F. et al.: Das Paläolithikum in den Weinberghöhlen bei Mauern. Quartär-Bibliothek 2. Bonn 1955.